The author of the treatise deals with ethnic prejudices and historical cliches of the 18th and 19th centuries. The summarized history of the centuries-long incremental autonomy of the Russia-Germans (1229–1941) in Rus (Tsardom of Russia, Russian Empire, Soviet Union) is presented in the detailed commentary on the anecdote published in the Dortmunder Wochenblatt of 8 October 1828.
Ethnische Vorurteile des 18. und 19. Jahrhunderts und volkskundliche Geschichtsklischees
Der Autor der Abhandlung setzt sich mit ethnischen Vorurteilen und Geschichtsklischees des 18. und 19. Jahrhunderts auseinander. Im ausführlichen Kommentar zur im Dortmunder Wochenblatt vom 8. Oktober 1828 veröffentlichten Anekdote wird die Geschichte der jahrhundertlangen etappenweisen Autonomie der Russlanddeutschen (1229–1941) in der Rus (Zarentum Russland, Russisches Imperium, Sowjetunion) zusammengefasst.
Kleine Zeitungsnotiz in der Rubrik „Miscellen“ (Verschiedenes) auf der Seite 15 der Zeitung „Dortmunder Wochenblatt“ vom 8. Oktober 1828 (2. Nummer):
Russische Sitte. Wenn der gemeine Russe in das Zimmer tritt, so verbeugt er sich zuerst vor dem Bilde eines Heiligen, das in jeder Stube aufgehängt ist, und dann erst begrüßt er die Frau vom Hause. Die Fremden, welche sich unter Tzaar Peter in Russland niederließen, brachten die damals noch seltnen Spiegel mit, und stellten sie über dem Kamin auf. Wenn nun der Russe seinen Heiligen in Zimmer suchte, fiel sein Auge auf den Spiegel, in dem er sich selbst erblickte, worauf er vor sich selbst eine tiefe Verbeugung machte, die ihm im Spiegel erwidert wurde. „Ah!“ rief er bei Gelegenheit aus: „Die Heiligen der Fremden sind doch höflicher, als die unsrigen.“
Diese Anekdote über den lächerlich dargestellten „gemeinen Russe“ spiegelt das im damaligen Westeuropa weit verbreitete abschätzige Bild der anscheinend einfältigen „Russen“ wider.
Schon die „Völkertafel“, die Anfang des 18. Jahrhunderts im Herzogtum Steiermark entstand, pauschalisierte die negativen ethnischen Stereotype über die Bevölkerung Russlands, das sich eigentlich im Laufe der Geschichte zum multireligiösen Vielvölkerstaat entwickelte:
Im Gegensatz zu den Deutschen („Sehr fromm“) wurde den „Russen“ von Autoren der „Völkertafel“ keine „Religiosität“ („Ein Ungläubiger“) beschieden.
Das „Dortmunder Wochenblatt“ verbreitet das Anfang des 19. Jahrhunderts populäre Geschichtsklischee: „Die Fremden, welche sich unter Tzaar Peter in Russland niederließen“. Unter den “Fremden“ werden offensichtlich auch die Deutschen gemeint. Dieses Klischee wurde später durch ein anderes – „Zarin Katharina II. lud die Deutschen nach Russland ein“ – ersetzt.
Kurze Beschreibung der in Europa befindlichen Völker und ihrer Eigenschaften. Auszug
Deutscher | Ungar | Russe | Türke oder Grieche | |
---|---|---|---|---|
Auftreten | Offenherzig | Untreu | Boshaft | Wie das Aprilwetter |
Natur und Charakter | Ganz gut | Am grausamsten | Wirklich ungarisch | Lügenteufel |
Verstand | Gewitzt | Geringschätziger | Gar nichts | „Oben auß“ |
Eigenschaften | Immer dabei | Blutgierig | Unendlich grob | Zärtlich |
Wissenschaften | Rechtswesen | Latein | Griechisch | Betrügerische Politik |
Kleidung | Macht alles nach | Vielfarbig | Pelze | Weibisch |
Untugenden | Verschwenderisch | Verräterisch | Noch verräterischer | Am verräterischsten |
Vorlieben | Trinken | Aufruhr | Prügel | Selbstverliebtheit |
Krankheiten | Podagra | An den Fraisen | Keuchhusten | Entkräftung |
Ihre Länder | Gut | Reich an Früchten und Gold | Vereist | Lieblich |
Kriegstugenden | Unüberwindlich | Aufrührerisch | Mühsam | Faul |
Religiosität | Sehr fromm | Tatkräftig | Ein Ungläubiger | Ein Ebensolcher |
Erkennen als ihren Herrscher an | Einen Kaiser | Einen Unbeliebigen | Einen Freiwilligen | Einen Tyrannen |
Haben Überfluss | an Getreide | an allem | an Bienen | An zarten und weichen Sachen |
Zeitvertreib | Trinken | Müßiggehen | Schlafen | Kränkeln |
Gegenstück in der Tierwelt | Löwe | Wolf | Esel | Katze |
Ihr Lebensende | Im Wein | Unter dem Säbel | Im Schnee | Beim Betrug |
Kommentar
1229 sandte der Smolensker Fürst Mstislaw Dawidowitsch (?; † 1231), auch im Auftrag der Fürsten von Polozk und Witebsk, eine Botschaft nach Riga und Wisby, um „die auf beiden Seiten herrschende Zwietracht zu beseitigen“ und „die Hindernisse zwischen den Einwohnern von Smolensk und den Deutschen zu beseitigen“. Die Verhandlungen im Namen der Deutschen wurden vom Ritter Rolf von Kassel und im Namen der Russen vom in Smolensk ansässigen Diplomaten Tumasch (Thomas) Michailowitsch.
„Dass zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis herrscht“ – so wird das in lateinischer Sprache verfasste Dokument eingeleitet – „und dass zur Freude der russischen Kaufleute in Riga und an der gotischen Küste und der deutschen Kaufleute im Fürstentum Smolensk bekannt wurde, dass Frieden und Harmonie hergestellt worden waren, und damit sie ewig und von den Menschen in Riga und anderen Deutschen, die auf der Ostsee segeln, geschätzt werden, haben die Vertragsparteien ein Gesetz entworfen, das sowohl für die Russen in Riga als auch für an der gotischen Küste und für die Deutschen in Smolensk verbindlich ist, und möge es für immer eingehalten werden.“
Der Vertrag, in dessen letztem Teil jeder Russe oder Deutscher, der gegen seine Bestimmungen verstieß, zum Übeltäter erklärt wurde, wurde in Riga in Anwesenheit des Bischofs, des Herrenmeister des Schwertbrüderordens Volkwin von Naumburg zu Winterstätten (*?; †1236) und aller Bürger von Riga unterzeichnet, die ihre Siegel daran befestigten. Es wurde auch von den Leitern der Handwerkszünfte von Wisby, Lübeck, Soest, Münster, Gröningen, Dortmund und Bremen unterzeichnet. Eine Kopie wurde in Wisby von „russischen Gesandten und allen lateinischen1 Kaufleuten“ unterzeichnet.
Die Nachfolger von Mstislaw Dawidowitsch bestätigten und ergänzten den Vertrag von 1229. Die Klausel, die in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts eingeführt wurde, sicherte den Deutschen ein unbegrenztes Recht, Häuser und Gehöfte zu besitzen. Sogar der Fürst selbst konnte „weder einen Tataren noch einen Boten“ dort einquartieren.
Der Vertrag von Smolensk von 1229 mit den darauf folgenden Ergänzungen und Rechtsprechungen verbriefte de facto die 1. Kulturelle und wirtschaftliche Autonomie der Deutschen und bestimmte den sozio-rechtlichen Status der Deutschen in einem der bedeutenden osteuropäischen Fürstentümer. Er beeinflusste den geopolitischen Paradigmenwechsel in anderen osteuropäische Staaten2 ein, nicht zuletzt im Großfürstentum Moskau.
Die Einladung der Deutschen
Ende März 1489 sandte der Großfürst von Moskau Iwan III., der sich als „Der Große Herrscher der ganzen Rus (Великий Государь всеа Руси)“ nannte, eine Botschaft an den Kaiser des Deutschen Reiches Friedrich III. (1415; †1493) und seinen Sohn König Maximilian von Deutschland (1459; † 1519), den zukünftigen Kaiser des Deutschen Reiches.
Die Anweisung vom 22. März 1489 an den persönlichen Gesandten Juri Trakhaniot (*?; †1513) und Iwan Chalepa, der ihn begleiteten, lautete:
„für den Großfürst diese Meister zu finden: einen Bergmann, der Gold- und Silbererz kennt, und einem anderen Meister, der weiß, wie man Gold und Silber von der Erde trennt …
und Juri, um einen listigen Meister zu suchen, der in der Lage wäre, die Städte zu belagern, und einen anderen Meister, der in der Lage wäre, aus Kanonen zu schießen, und auch einen listigen Maurer zu finden, der in der Lage wäre, große Gefäße und Tassen zu machen, und er in der Lage wäre, die Inschriften auf diesen Gefäßen zu prägen; und sie müssen vorbereitet werden, um dem Großfürst als Leiharbeiter zu Diensten zu stehen. Und falls diese Meister nicht angeheuert werden wollen, sondern gegen den großfürstlichen Gehalt gehen wollen, und auch dann muss Juri diejenige, die für ein Gehalt des Großfürsten arbeiten wollen, mitnehmen…“ 3.
Dies ist die erste dokumentierte offizielle Einladung deutscher Spezialisten nach der Rus.
Diese Einladung hatte weitreichende Auswirkungen. Nach einiger Zeit fanden die deutschen Geologen die Silbervorkommen an der Zilma, einem linken Nebenfluss der Petschora. Dies ermöglichte es Russland unter Iwan III., Münzen aus seinem eigenen Silber zu prägen. „Die Zeit ohne Münzen (Безмонетный период)“ in der Geschichte der Rus war endlich vorbei.
Im XV Jahrhundert wurde der doppelköpfige Adler des Byzantinischen Reiches zu einem Symbol des Widerstands gegen die türkische Aggression. Ab 1442 war er sowohl auf den Wappen des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) und Russlands (seit 1495) als auch der Balkanvölker, die den ersten Schlag der türkischen Eroberer zu erleiden hatten.
Khanat Kasan – Zarentum Rus – Königreich Livland
Der 1558 begonnene 25-jährige Große Koalitionskrieg wird in der Geschichtsschreibung als Livländischer Krieg (1558–1583) bezeichnet und als ein Kampf zwischen dem Zarentum Rus, Polen-Litauen, Dänemark und Schweden um die Vorherrschaft im Baltikum und im Ostseeraum dargestellt. Dennoch verzeichnen die Chroniken genau für diese Zeitspanne verwüstende Einfälle des Verbündeten des Osmanischen Reiches – der Krimtataren – auf das Zarentum in den Jahren 1559, 1560, 1564, 1570, 1572, 1578, 1581 und 1582.
Der Ausbruch des Livländischen Krieges kam Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich sehr gelegen. Die beiden waren an einer Ablenkung bzw. Schwächung des Verbündeten des Deutschen Reiches interessiert.
Am 17. Januar 1558 marschierten die Truppen Ioanns IV. in Livland ein, unter dem Vorwand, die vertragsbedingten Rückstände einzutreiben (was eigentlich auch den Tatsachen entsprach). Zwar waren die livländischen Städte an der Ostseeküste wegen des Handels mit Westeuropa von strategischer Bedeutung für das Zarentum. Schon 1557 gründete Ioann IV. mit Unterstützung der Moskauer Kompanie den neuen Hafen am Ufer der Narwa, nicht weit von ihrer Mündung in die Ostsee und gegenüber der livländischen Stadt Narwa – mit dem Ziel, die traditionellen Handelsrouten umzuleiten und die livländischen Hafenstädte Riga und Reval zu umgehen. Dennoch wollte der Zar den Partnerstaat vielmehr als einen ihm freundlich gesinnten Nachbarn haben, der zwischen seinem Machtbereich und dem Deutschen Reich stehen bzw. ihn mit diesem verbünden sollte.
Die Anfangsphase des Livländischen Krieges war für das Zarentum Rus aus geopolitischer und militärischer Sicht triumphal. Nach der Einnahme der Festungen Narwa, Dorpat und Neuhausen, die den Zarentruppen zähen Widerstand geleistet hatten, gaben die meisten deutschen Festungen ohne Widerstand auf. Riga blieb jedoch unbesetzt. In den besiegten Städten blieb die gemeinwesentliche Selbstverwaltung bestehen, den Gläubigen wurde Religionsfreiheit gewährt und den Geschäftsleuten der steuerfreie Handel mit dem Zarentum versprochen. Der Zar ließ die Gelder für den Wiederaufbau von Narwa und Darlehen für die Grundbesitzer aus dem Staatsschatz ausgeben. Für den Winter 1558/1559 beschlossen die Zarenheerführer, die Mehrheit der Invasionsstreitkräfte auf frühere Stationierungspunkte, die sich auf dem Territorium des Zarentums befanden, abzuziehen. Nur kleine Besatzungen wurden in Livland belassen.
Diese Gelegenheit ergriff der neu gewählte Landmeister Livlands, Gotthard Kettler (1517; †1587), dem der Deutsche Orden im Reich, die Deutsche Hanse und der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Ferdinand I. (1503; †1564) moralische Unterstützung versprochen hatten. Allerdings bekam Kettler realen militärischen Beistand vom katholischen Großfürstentum Litauen, das schon 1386 eine Union mit dem ebenso katholischen Polen eingegangen war. Am 31. August 1559 schloss Kettler mit dem Großfürsten von Litauen Sigismund II. August (* 1520; † 1572) ein Übereinkommen, dem entsprechend sich Süd- und Zentrallivland mit Riga als Protektorat dem Großfürstentum Litauen unterstellten. Gleichzeitig wurde Nordlivland mit Reval durch die schwedischen Truppen besetzt. Die Insel Ösel wurde den Dänen für 30.000 Taler verkauft.
Kettler sammelte die Verstärkungstruppen und überfiel die kleinen vereinzelten Besatzungsgarnisonen des Zaren. Kettlers Streitkräfte nahmen keine Gefangenen; die Chroniken berichten, dass 1000 Zarenkrieger niedergemetzelt wurden.
Die Vergeltungsaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Kettlers Truppen wurden in der Schlacht bei Ermes (2. August 1560) entscheidend geschlagen. Am 5. März 1562 legte Gotthard Kettler die Insignien des Ordensmeisters ab und schwor dem polnischen König den Lehnseid. Livland wurde in polnische, dänische, schwedische und zaristische Besatzungs- bzw. Einflusszonen aufgeteilt. Von diesem Zeitpunkt an musste der Zar Krieg gegen die übermächtige Koalition des katholischen Polen-Litauens führen, mit dem die lutherischen Königreiche Schweden und Dänemark sich verbündeten. Dann entschied sich der Zar für eine andere Strategie und bemühte sich, Dänemark auf seine Seite zu bringen. Dafür gab es gute Voraussetzungen.
Der König von Dänemark und Norwegen, Christian III. (* 1503; † 1559), führte 1536 den lutherischen Glauben in seinem Königreich ein. Zuvor stieß er auf zähen Widerstand des katholisch dominierten Reichsrates und der katholischen Bischöfe, die er letztendlich verhaften ließ. Christian brauchte sowohl die Unterstützung des ebenso lutherischen preußischen Herzogs Albrecht bzw. der Königsberger Theologen in Glaubensfragen als auch die Neutralität Preußens in seinem Kampf gegen den Nebenbuhler Schweden um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Schon 1550 richtete Christian dem Zaren sein Anliegen aus, eine lutherische Mission im Zarentum zu betreiben. Dieses Angebot blieb letztendlich nicht ohne Folgen.
1570 ernannte Ioann IV. den dritten Sohn von Christian III., Magnus von Dänemark (1540; †1583), zum König von Livland und Oberbefehlshaber der russischen Armee im Feldzug gegen die Schweden, die Nordlivland in Besitz genommen hatten. Das Königreich von Livland war ein Neugebilde, das aus Bruchteilen des Besitzes des zerschlagenen Livländischen Ordens zur Sicherung der unmittelbaren Kontakte zwischen dem Zarentum und dem Deutschen Reich ins Leben gerufen wurde. Der aufgestellte König bekam ein 25.000 Mann starkes Heer. In demselben Jahr, 1570, fielen die Krimtataren ins Zarentum Rus ein. Im folgenden Jahr durchbrach das Tatarenheer die Stellungen an der Oka und brannte vom 24. bis zum 26. Mai 1571 Moskau fast vollständig nieder. Danach verlangte der Krimkhan Devlet I. Giray (1512; †1577) die gehorsame Unterwerfung des Zarentums, das seit der Eroberung von Konstantinopel (29. Mai 1453) die Ostfront des christlichen Widerstandes gegen die türkischen Invasionen darstellte. Der Zar war bereit, nachzugeben und den größten Teil seiner Besitzungen dem Osmanischen Reich und dem Krimkhanat abzutreten. Seine Kapitulationsbereitschaft erschreckte die Deutschen. Die Gräuel der türkischen Feldzüge gegen das Abendland und der Belagerung von Wien (1529) waren ihnen noch frisch in der Erinnerung.
Gegen die Horde der Eroberer wurde nur die Armee von 20.000 Mann unter der Führung des herausragenden Heerführers Michail Iwanowitsch Worotynski (1516; †1573) aufgestellt. Eine 7.000 Mann Armee livländischer Deutscher mit dem Feldherrn Jürgen von Fahrensbach (1551; †1602), einem Vertrauten des Königs Magnus, eilte ihnen zu Hilfe.
In der Schlacht bei Molodi (Битва при Молодях), die sich zwischen dem 26. Juli und dem 2. August 1572 ereignete, zerschlug das verbündete christliche Heer (ca. 20.000 Mann), dank ihrer Militärkompetenzen, den zahlenmäßig fünffach überlegenen Gegner (ca. 125.000 Mann). Das war der Beginn des Niederganges des Krimkhanats.
Sowohl der Zar als auch der König von Livland waren bestrebt, ihr Bündnis auch durch Familienbande zu festigen. Am 12. April 1573 heiratete Magnus Marie Starizkaja (1560; †1610), eine Nichte des Zaren. Im Herbst 1575 trat Ioann IV. zurück und übertrug die Regierung an Sajin Bulat (?; †1616), dem in Moskau ansässigen Khan von Kasimow, einem Enkel Achmads (?; † 1481), des letzten Khans der Goldenen Horde. Ein Jahr zuvor hatte er als Oberbefehlshaber der russischen Armee in Nordlivland vergeblich versucht, den Hafen Pernau zu erobern, der seit 1561 in schwedischem Besitz war. Der abgedankte Zar zog sich unter dem neuen Namen Fürst Iwan Mosckowskij für über ein Jahr aus dem Kreml zurück, übernahm aber Ende 1576 erneut die Macht.
Die infolge der Zarenabdankung unsichere politische Situation veranlasste König Magnus, seine eigene Politik in Bezug auf die Nachbarn zu verfolgen. Er nahm Verhandlungen mit dem König von Polen Stephan Báthory (*1533; †1586) auf und fiel dadurch in Ungnade beim Zaren. 1578 flüchtete er mit seiner Frau nach Riga, das von den Polen kontrolliert wurde.
Damit endete das kurzfristige Bestehen des Königreichs Livland und im weiteren Sinne das des föderativen Staates ‚Khanat Kasan – Zarentum Rus – Königreich Livland‘, in dem die Deutschen Baltikums eine weitgehende religiöse, administrative und wirtschaftliche Autonomie genossen. Das war die 2. Autonomie der Deutschen innerhalb der Rus, die nicht auf dem leeren Boden gegründet worden war. Der Vertrag von 1229 legte den gewohnheitsrechtlichen Grundstein zur diesen Autonomie, die ihren Fortbestand in autonomen Vorstädten (Possad / посад) der Deutschen wiederfand.
Ein neuer Anfang der Deutschen im Zarentum
Die Kampfführungsstrategie im Osten des Zarentums war auf die fachliche Unterstützung begabter Deutscher angewiesen, um die befestigten Stützpunkte an der Süd- und Ostgrenze zu bevölkern. Den aus den Chroniken abgeleiteten Einschätzungen des Autors nach, betraf die Umsiedlungspolitik Ioanns IV. im Verlauf des Livländischen Krieges Zehntausende von Deutschen und Ostbalten. 1588 dienten allein in der mittelgroßen befestigten Ansiedlung Dedilowo an der Südgrenze des Zarentums (ca. 200 Kilometer südöstlich von Moskau) 82 „ausländische Krieger“, so die Chronik.
Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang das abenteuerliche Leben von Johann Wilhelm von Fürstenberg (1500; †1568), des vorletzten Landmeisters des Deutschen Ordens in Livland. Fürstenberg wurde im westfälischen Neheim, das heutzutage ein Arnsberger Ortsteil ist, geboren. Als Sechzehnjähriger trat er in den Deutschen Orden ein, wo er in der Versorgungseinrichtung für nachgeborene Söhne des westfälischen Adels ausgebildet wurde. Wilhelm folgte dem Vorbild zahlreicher Mitglieder der Familie von Fürstenberg. Wie diese begab er sich nach Livland, wo er im Laufe der Zeit wichtige Positionen erreichte. Am 20. Mai 1557 übernahm Fürstenberg als Landmeister die Führung der Angelegenheiten des Deutschen Ordens in Livland, dessen Armee zu diesem Zeitpunkt sehr schwach war und vor allem aus Söldnern bestand. Am 14. September 1557 schloss er ein Bündnis mit dem König von Polen, Sigismund August, der auch gleichzeitig der Großfürst von Litauen war. Diese neue Koalition richtete sich gegen das Zarentum Rus. Das Vermächtnis von Wolter von Plettenberg (um 1450; †1535), der den Frieden mit Russland befürwortete, wurde der Vergessenheit preisgegeben.
Nach einer Reihe von militärischen Niederlagen wurde Fürstenberg 1559 des Landmeistersamtes enthoben und Gotthard Kettler als sein Nachfolger bestätigt. Allerdings behielt Johann Wilhelm von Fürstenberg wichtige Ämter im Ordensstaat, verwaltete weitläufige Gebiete und war im April 1560 der Oberbefehlshaber der Ordensburg Fellin, die als die größte im Baltikum galt. Die verheerende Niederlage der Söldner des Deutschen Ordens in der Schlacht bei Ermes (2. August 1560) trieb auch den Fall des belagerten Fellin voran. Fürstenberg wurde mit seinen Truppen gefangen genommen und in die östliche Grenzstadt Jaroslawl (280 Kilometer nordöstlich von Moskau) fortgeschafft, die den wichtigen Wolga-Handelsweg sicherte. Später schrieb Fürstenberg aus Jaroslawl seinen Verwandten, er habe keine Gründe, mit dem Schicksal zu hadern. Er fühlte sich in seinem neuen Zustand offenbar nicht eingeschränkt und wurde in Moskau bei Zarenaudienzen gesehen. Sein Schicksal war typisch für das vieler ehemaliger Angehörigen des Deutschen Ordens, die in Zarendiensten angestellt waren. Ein wichtiger Faktor, der die bewusste Pflichterfüllung seitens der „ausländischen Krieger“ veranlasste: sowohl das Zarentum als auch das christlich geprägte Europa führten zu jener Zeit die erschöpfenden Türkenkriege gegen das Osmanische Reich und seine Verbündeten. Die an den Grenzen zum türkischen Feind beheimateten Ordensmitglieder verteidigten also eigentlich die europäische Souveränität auf den fernen Vorfeldern des Abendlands.
Das tragische Fazit des 16. Jahrhunderts war die humanitäre Katastrophe des Ostbaltikums. Die deutsche Bevölkerung wurde zwischen dem Herzogtum Preußen, dem Herzogtum Kurland und Semgallen (ab 1561), die unter polnischer Hoheit standen, und den durch Schweden besetzten Territorien im Nordostbaltikum zerrissen. Einige ostbaltische Inseln gehörten Dänemark. Mehrere Zehntausend gefangen genommenen Deutsche Livlands wurden an den Süd- und Ostgrenzen des Zarentums – an der Verhaulinie (засеки [zaseki]) – angesiedelt.
Die Gräuel der Bartholomäusnacht (24. August 1572), die die französischen Katholiken an den protestantischen Hugenotten begingen, versetzten für Jahrhunderte die europäischen Protestanten in Schrecken und Misstrauen. Die beiderseitige Abneigung zwischen Katholiken und Protestanten war zur gesellschaftlichen Norm geworden.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schien es für viele ehemalige ostbaltische Mitglieder und Untertanen des Deutschen Ordens nur zwei Möglichkeiten zu geben: entweder sich irgendwie der drastisch geänderten geistlichen Umgebung anzupassen oder auszuwandern. Das Damoklesschwert der katholischen Rache blieb über den Köpfen der Lutheraner unter der polnischen Hoheit hängen, die lutherischen Kirchenrituale durften in den schwedischen bzw. dänischen Besatzungszonen Livlands nur in den nationalen Sprachen der Besatzungsmächte ausgeübt werden.
Der lutherische Glaube war im Zarentum Rus geduldet und in vielen Aspekten konnten die Protestanten und die christlichen Andersgläubigen, wie z. B. die Anhänger der Lehre von Andreas Osiander (1496; †1552) oder Antitrinitarier, sich wesentlich ungehinderter in Ost- als in Westeuropa oder im Ostbaltikum fühlen. Der Militärdienst im Zarentum bot ihnen auch eine lukrative Perspektive. Den Offizieren und einfachen Verhauliniekriegern wurde guter Sold vom Zarenschatz entrichtet. Für zuverlässige Dienste wurden ihnen Bodenanteile mit Leibeigenen in der fruchtbaren Schwarzerde-Zone Osteuropas zugeteilt, die von dem Osmanischen Reiche erobert worden war. Eine Gruppe von Deutschen aus Livland ließ sich in der Moskauer Vorstadt an den Ufern der Jausa, dem linken Nebenfluss der Moskwa, nieder. 1560 wurde dort die Lutherische Gemeinde gegründet, der der Sohn des friesischen Theologen Brictius thon Norde (um 1490; †1557) vorstand. 1601 wurde auf Anordnung des Zaren Boris Fjodorowitsch Godunow (* 1552; † 1605) die lutherische Steinkirche in Moskau gebaut. Die deutsche Vorstadt von Moskau setzte die gewohnheitsrechtliche religiöse, kulturelle, wirtschaftliche und teilweise territoriale (wenn auch in kleinerem Maßstab) Autonomie der Deutschen in der Rus fort.
Dorniger Weg zur Imperiumsgründung
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zählten die osteuropäischen Chroniken 43 Einfälle der Krimtataren. Der Sultan des Osmanischen Reiches Selim II. ( 1524; † 1574) plante selbst die Eroberung des Zarentums Rus und forderte aus diesem Grund die erneute Unterstützung des Krimkhanats. Polen und Litauen verbündeten sich mit dem Sultan. 1606 endete der Lange Türkenkrieg (1593–1606). Eine einmalige Zahlung von 200.000 Gulden beendete den bis dahin jährlich den Türken zu zahlenden Tribut der Deutschen. Der Sultan musste den deutschen Imperator erstmals als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkennen. Dennoch schalteten sich schon ein Jahr zuvor die Verbündeten der Türken – die Polen – als vermeintlicher Garant der Erbrechte der Rurikiden in den innerpolitischen Streit des Zarentums Rus ein. 1605 okkupierten die Polen Moskau und setzten ihren Schützling Pseudodimitri I. (?; †1606) auf den Zarenthron. Als dieser 1606 vom aufständischen Volk ermordet worden war, ließen die Polen ihren zweiten Protegé, den zweiten falschen Dimitri (?; †1610), zum Zaren krönen. 1607, zum ersten Mal seit der Niederlage auf dem Schlachtfeld bei Molodi (1572), durchbrachen die Krimtataren die Verteidigungsstellungen an der Oka und verwüsteten die Gebiete, die ihrem Verbündeten, dem polnischen König, die Eidesleistung verweigerten. Die Bojaren und das Volk riefen ihre Nachbarn – die livländischen deutschen Ritter – um Hilfe an. Ein Teil der Ritter unterstellte sich nach dem Livländischen Krieg (1558–1583) der schwedischen Krone, sodass sie für ein solches Unternehmen der Einwilligung des schwedischen Königs bedurften. Der Titularkönig von Schweden, Sigismund III. Wasa ( 1566; † 1632), der von 1587 bis 1592 auch das gewählte Staatsoberhaupt von Polen-Litauen war, stimmte unter bestimmten Vorbedingungen zu. Der in Reval geborene Graf Jakob Pontusson De La Gardie von Läckö (* 1583; † 1652) war an die Spitze des Heeres gesetzt, das die Polen bei ihrem Vormarsch aufhalten sollte. Zusammen mit dem Zarenheer, das Michail Wassiljewitsch Skopin-Schuiski (1586; †1610) führte, schlugen die Deutschen die Polen bei Twer und befreiten das Kloster der Dreifaltigkeit und des Heiligen Sergius im heutigen Sergijew Possad. Am 10. März 1610 marschierten die Alliierten feierlich in Moskau ein, wo sie von der Bevölkerung mit Brot-und-Salz-Gabe begeistert bejubelt wurden. Am 18. März gab der zurückgekehrte Zar Wassili IV. Iwanowitsch Schuiski (1552; †1612) in der von den Polen befreiten Hauptstadt ein fürstliches Festmahl zu Ehren von De La Gardie und seinen deutschen Rittern …
Im Winter 1656/57 fielen die Lipka-Tataren und Krimtataren in das Livland benachbarte Herzogtum Preußen ein. Der verwüstende Raubzug erfolgte, nachdem sich Polen 1654 mit dem Krimkhanat verbündet hatte. Die Tataren töteten bis zu 23.000 Menschen und verschleppten 34.000 Einwohner Preußens in die Sklaverei. Den Chroniken zufolge verhungerten oder erfroren bis zu 80.000 Menschen in den verwüsteten Landstrichen.
Allerdings war Ende des 17. Jahrhunderts auch für die Polen die Gefahr, von den Türken erobert zu werden, zur realen Bedrohung geworden und das deutsch-polnische Entsatzheer unter der Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski (1629; †1696) rettete die vom 14. Juli bis 12. September 1683 belagerte Hauptstadt des Deutschen Imperiums – Wien – in der Schlacht am Kahlenberg (12. September 1683). Der Versuch des Osmanischen Reiches, Wien zu erobern und das Tor nach Zentral- bzw. Westeuropa aufzustoßen, war gescheitert. Dennoch dauerte der Große Türkenkrieg noch fast anderthalb Jahrzehnte. Im Frieden von Karlowitz (26. Januar 1699) musste sich das Osmanische Reich erstmals von den christlichen Mächten (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Polen-Litauen, Republik Venedig, Kirchenstaat sowie Zarentum Rus) Friedensbedingungen diktieren lassen. Inzwischen verschlechterte sich die Lage der Deutschen, Esten und Letten in Livland. Das 1561 entstandene Herzogtum Kurland und Semgallen stand unter der Suzeränität Polen-Litauens. Zwar erreichte Kurland unter Herzog Jakob Kettler (1610; †1682) eine wirtschaftliche Blüte, verfügte über eine der größten europäischen Handelsflotten und besorgte sich sogar die Kolonien Tobago (Neukurland) und James Island am Gambia-Fluss in Afrika. Doch seine wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften wurden 1655 durch den Einfall der Schweden zunichtegemacht.
Der Vertrag von Oliva (3. Mai 1660) verbriefte die schwedische Oberhoheit über Livland und Riga. Die schwedische Krone ergriff diese Gelegenheit, um eine umfassende Enteignungskampagne, die man „Reduktion“ nannte, in Livland durchzuführen. Der schwedische König Karl XI. (1655; †1697) ordnete an, die Bodenanteile der Deutschen für den Fiskus einzuziehen. Und gleichzeitig wurde auf grausame Weise versucht, den ehemaligen Grundbesitzern ihr beschlagnahmtes Eigentum zu verpachten, „um weitere Geldmittel flüssig zu machen“, und „die deutsche durch die schwedische Verwaltungssprache zu ersetzen“. 4
Dem Kampf gegen die schwedischen Okkupanten stand Johann Reinhold von Patkul (1660; † 1707) vor. 1694 musste er ins Exil gehen, nachdem das Todesurteil über ihn verhängt und seine livländischen Güter beschlagnahmt worden waren. Am 1. November 1698 trat er in den Dienst Augusts des Starken (1670; †1733) und erreichte, dass 1699 mit Dänemark und Russland ein gegen Schweden gerichtetes Bündnis geschlossen wurde. Darum sehen manche Geschichtsschreiber in Patkul den Initiator des Großen Nordischen Krieges (1700–1721). 1701 ging er in den Dienst des russischen Zaren Peter I. (1672; † 1725) und wurde 1703 dessen Gesandter am sächsisch-polnischen Hof. Doch als August der Starke einen Separatfrieden mit Schweden anstrebte, wirkte er diesem entgegen, woraufhin er am 19. Dezember 1705 inhaftiert wurde. Am 7. April 1707 wurde er an den Schwedenkönig Karl XII. (*1682; †1718) ausgeliefert. Dieser ließ ihn als Landesverräter rädern und vierteilen.
Der Anfang des Großen Nordischen Krieges nahm für Russland eine katastrophale Wendung. In der Schlacht bei Narva (20. November 1700) schlug der noch junge schwedische König Karl XII. die zahlenmäßig weit überlegene Zarenarmee vernichtend. Die schwere taktische Niederlage des Zarenheers bei Narva barg zugleich den Samen des späteren Erfolgs. Peter I. lernte aus seinem Misserfolg. Er forcierte die Schwerindustrie zur Herstellung des damals modernsten Kriegsgerätes. Mithilfe deutscher Fachleute reformierte und vergrößerte der Zar die veraltete Armee bis 1705 auf 200.000 Soldaten und machte sie den modernen Armeen Europas ebenbürtig. In der Schlacht bei Poltawa (8. Juli 1709) wurde die schwedische Hauptarmee völlig vernichtet und Karl XII. floh zu den Türken, bei denen er sich fünf Jahre aufhielt.
Im Herbst 1709 belagerten russische Truppen Riga und am 15. Juli 1710 kapitulierte seine schwedische Garnison.
Die 3. Autonomie der Deutschen in der Rus
Am 4. Juli 1710 schloss Generalfeldmarschall der russischen Armee Boris Petrowitsch Scheremetew (1652; †1719) mit der Stadt Riga und mit der Livländischen Ritterschaft die sogenannten Kapitulationen, welche die Sonderstellung Livlands und Rigas im Zarentum Rus festlegte. Am 14. Juli 1710 huldigten die Livländische Ritterschaft und der Ständerat von Riga dem Zaren Peter I. Am 29. September 1710 wurden ähnliche Vereinbarungen in der Kapitulation mit der Stadt Reval und mit der Estländischen Ritterschaft geschlossen. General der Kavallerie Christian Felix Bauer (1667; †1717) unterschrieb diese Kapitulation von russischer Seite.
Dem Herzogtum Estland und dem Herzogtum Livland wurden ihre Privilegien verliehen, die sie unter der schwedischen Krone vor der Reduktion besessen hatten. Zar Peter I. bestätigte die vereinbarten Bedingungen als immerwährend. Gemäß den Privilegien, hatte die livländische Selbstverwaltung (Autonomie) die Angelegenheiten der Rechtsprechung, Kirche, Schule, Wohlfahrt, Post, Gemeinde- bzw. Stadtverwaltung inne.
Die Rechte der von den Deutschen verwalteten Autonomie wurden im § 9 des Friedens von Nystad nochmals bestätigt:
„Seine Czarische Majest. versprechen daneben/ daß die sämtliche Einwohner der Provintzien Lieff- und Estland/ wie auch Oesel/ Adeliche oder Unadeliche/ und die in selbigen Provintzien befindliche Städte/ Magistraten/ Gilden und Zünffte bey ihren unter der Schwedischen Regierung gehabten Privilegien, Gewohnheiten/ Rechten und Gerechtigkeiten bestäntig und ohnverrückt conserviret/ gehandhabet und geschützet werden sollen.“
Somit erhielt die 3. Autonomie der Deutschen in der Rus auch die gesetzlich verbriefte internationale Anerkennung.
Die von den Deutschen verwaltete Autonomie wurde zunächst in zwei Bestandteile gegliedert: das Rigaer Gouvernement (Рижская губерния) und Reval Gouvernement (Ревельская губерния), ab 1795 gab es schon drei territorial-administrative Gliederungen: Kurländisches Gouvernement (Курляндская губерния), Livländisches Gouvernement (Лифляндская губерния), Esthländisches Gouvernement (Эстляндская губерния).
Neben der allgemeinen Verwaltung eines Gouvernements, Kronbehörden genannt, bestanden auch die Landesbehörden, welche die Selbstverwaltung in Livland verkörperten. Während die Kronbehörden samt dem Gouverneur oder Statthalter den zentralen russischen Behörden und Ministerien unterstanden, waren die Landesbehörden unabhängig von Weisungen der zentralen Staatsmacht. Laut den Kapitulationen war die lutherische Konfession ausdrücklich als herrschende Landeskirche anerkannt worden.
In allen Behörden und Institutionen war die deutsche Geschäftssprache beibehalten oder eingeführt worden. Sowohl in den Kreisschulen als auch in den Gymnasien Deutsch war die Unterrichtssprache.
Mit den Ostseegouvernements wurden zum ersten Mal Gebiete in das Russische Imperium eingegliedert, die nicht nur, wie etwa Nowgorod, unter starkem europäischen Kultureinfluss gestanden hatten, sondern die in ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur, im Niveau ihrer geistigen und materiellen Kultur, in ihrer geschichtlichen Entwicklung und damit in ihren Werttraditionen echtes Abendland waren. Estland, Livland und Kurland wurden deswegen auch als die „deutschen“ Ostseeprovinzen Russlands bezeichnet.
Die Deutschen der Ostseegouvernements dienten daher fortan dem „Imperator und Selbstherrscher aller Reußen“, wie sie bisher der Krone Schwedens gedient hatten, als dem Throne treue Untertanen, wobei sich ihnen neue und ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. Der deutsch-baltische Adel spielte eine bedeutende Rolle in der Geschichte Russlands. Aus seinen Reihen kamen zahlreiche Minister, Politiker, Generäle und Admiräle. Die deutschsprachige Universität in Dorpat hatte besonders im 19. Jahrhundert einen festen Platz im deutschen Kulturleben. Die Deutsch-Balten stellten den Adel und den Großteil des Bürgertums und bis weit ins 19. Jahrhundert die Mehrzahl der Stadtbewohner.
Während zur gleichen Zeit in den nordostdeutschen Territorien Preußens der absolute Fürstenstaat über die Stände triumphierte, vermochten die Ritterschaften und Stadtobrigkeiten der baltischen Provinzen ihre deutschrechtliche politische Eigenständigkeit zu bewahren.
Dieser Umstand hat zweifellos dazu beigetragen, dass die Deutschen Livlands, Estlands und Kurlands bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen ausbildeten, durch die sich von Angehörigen der gleichen sozialen Schichten in Preußen unterschieden. Dort entwickelte sich ein primär staatsbezogener, d. h. vom Staatsethos geprägter Menschentypus, während der deutsche Balte primär gesellschaftsbezogen war.
Allerdings, durch den Regierungsantritt der Thronusurpatorin Katharina II wurden die Beziehungen zwischen Sankt Petersburg und den baltischen Provinzen ihrer bisherigen Stabilität beraubt. Zunächst bestätigte sie die Privilegien von 1710. Jedoch 1764 erfolgte in der Frage der Autonomie der Provinzen ein Umdenken der Thronusurpatorin. Die Stärkung des russischen Absolutismus und der Gedanke, das Imperium als ein Ganzes zu sehen, setzten die baltische Autonomie stark unter Druck.
Auch die Zeit zwischen 1860 und 1905 sowie von 1910 bis 1917 war durch eine verstärkte bis radikale Russifizierungspolitik geprägt, welche die Privilegien der deutschen Ritterschaft immer mehr einengte.
Aus der Abwehrhaltung gegenüber möglichen Eingriffen des andersnationalen Staates in die gesellschaftliche Sphäre bildeten die baltischen Deutschen Kräfte der nationalen Selbsthilfe aus und wiesen der Gesellschaft Funktionen zu, die anderswo staatlichen Organen zukamen.
Bis 1918 verfügten die Deutschen des Ostseegouvernements über eine beträchtliche Autonomie und behielten bis zum Ende ihrer Existenz ein unabhängiges Rechtssystem.
Die am 19. Oktober 1918 gegründete Arbeitskommune der Wolgadeutschen (ab 6. Januar 1924 – die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen) innerhalb der Teilrepublik der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken war die Umsetzung des gewohnheitsrechtlichen autonomen Status der Deutschen unter den neuen sozial-politischen Umständen. Die verbriefte gewohnheitsrechtliche Autonomie der Deutschen innerhalb der Rus (Zarentum Russland, Russisches Imperium, Sowjetunion) blieb bis 1941 bestehen.
Notes:
1. So wurden u. a. die Deutschen, die Untertanen des Heiligen Römischen Reiches waren, genannt. Latein war die offizielle Sprache dieses Staatengebildes. ←
2. Nach den Berechnungen des Autors, in den X-XV Jahrhunderten auf dem Territorium des multiethnischen Osteuropas zu verschiedenen Zeiten gab es 163 Fürstentümer bzw. Großfürstentümer und 3 Republiken: Republik Wologda (1433-1481), Republik Pskow (XI Jahrhundert–1510) und Republik Nowgorod (882–1478) ←
3. Denkmäler der diplomatischen Beziehungen des alten Russlands mit ausländischen Mächten. Erster Teil: Beziehungen zu europäischen Staaten: Diplomatische Denkmäler Beziehungen zum Römischen Reich; Band I; St. Petersburg 1851; Spalten 19–20. (Памятники дипломатических сношений древней России с державами иностранными.
Часть первая: Сношения с государствами европейскими: Памятники дипломатических сношений с Империей Римской; том I; С. Петербург 1851; столбцы 19–20.) ←
4. Tuchtenhagen, Ralph: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa; Wiesbaden: Harrassowitz 2008; S. 346. ←
Walther Friesen
Dr. Walther Friesen ist ein Orientlist und Geschichtsforscher.
Er lebt und arbeitet in Deutschland.